Epigenetische Veränderung löst „ADHS-Bremse” bei Ratten

Stacey L. Kigar et al.: Gadd45b is an epigenetic regulator of juvenile social behavior and alters local pro-inflammatory cytokine production in the rodent amygdala. Brain, Behavior, and Immunity 46, 05/2015, S. 60 – 69.

Eines der bekanntesten Beispiele für die frühkindliche epigenetische Prägung der Persönlichkeit sind Kinder so genannter Non-Licking-Rats („nicht leckende Ratten“): Wenn sich Rattenmütter in den ersten Tagen nach der Geburt nur wenig um ihren Nachwuchs kümmern, ihn zum Beispiel nicht ablecken, wird das Gen für eine wichtige Stresshormon-Andockstelle (Glucocorticoid-Rezeptor) an einer bestimmten Stelle des Gehirns (Hippocampus) nicht ausreichend von Methylgruppen befreit. So bleiben diese epigenetischen Riegel erhalten, die Ratten bilden nur wenige Stresshormon-Rezeptoren und haben zeitlebens eine überempfindliche Stressregulation.

Nun fanden Forscher aus den USA heraus, dass ganz ähnliche Prozesse in einer anderen Hirnregion und am Gen eines anderen Rezeptors womöglich an der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen wie dem Aufmerksamkeits-Defizit und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), Autismus oder Schizophrenie beteiligt sind. Bestätigen sich die Resultate und lassen sie sich eines Tages auf den Menschen übertragen, würde das einmal mehr bedeuten, dass epigenetische Veränderungen aus der Zeit um die Geburt einen wichtigen Anteil am späteren Risiko für psychiatrische Erkrankungen aller Art haben.

Stacey Kigar und Kollegen hemmten – übrigens per RNA-Interferenz, also epigenetisch – bei Ratten die Produktion eines Proteins namens Gadd45b. Das taten sie direkt nach der Geburt der Tiere, und sie taten es gezielt im Angstzentrum des Gehirns, den Mandelkernen, auch Amygdalae genannt. Der Clou: Man nimmt an, dass Gadd45b die Zellen bei der aktiven Entfernung von Methylgruppen von der DNA unterstützt. Fehlt es, gelingt es Zellen also nicht mehr so gut, epigenetisch abgeschaltete Gene wieder in den aktivierbaren Modus umzuschalten.

Tatsächlich zeigten die so behandelten Tiere im Alter von drei Wochen, was bei Menschen etwa dem Alter von Jugendlichen entspräche, ein besonders ausgeprägtes rohes und rabaukiges Spielverhalten, das man durchaus als eine Art Ratten-ADHS bezeichnen kann. Gleichzeitig waren einige Gene weniger aktiv als gewöhnlich, von denen man weiß, dass ihre Fehlregulation bei Persönlichkeitsstörungen eine Rolle spielt. Vor allem aber war das Gen für einen Rezeptor namens Adra2a epigenetisch ungewöhnlich stark per DNA-Methylierung unterdrückt. Dieser Rezeptor ist exakt jene Andockstelle, die das ADHS-Medikament Ritalin aktiviert, das heißt, er fungiert wie eine Bremse für übertriebenes Spielverhalten. Haben die Tiere wenige dieser Rezeptoren, neigen sie offenbar zu einer besonders ungezügeltem Persönlichkeit.

Die epigenetisch aktive Substanz Gadd45b „spielt also eine bislang unbekannte Rolle bei der Organisation des Sozialverhaltens in der Amygdala“, schreibt Kigar in einem Beitrag für das Internetportal EpiBeat. Auch wenn die Forscher das Phänomen künstlich herbeiführten, so ist doch anzunehmen, dass prägende Umwelteinflüsse in einem sensiblen Zeitfenster vergleichbare Wirkungen haben können. Warum sollte in den Amygdalae nicht auch gelten, was im Fall der Non-Licking-Rats für den Hippocampus gesicherte Erkenntnis ist.

English version: Epigenetic change triggers „ADHD brake“ in rats