Epigenetik bereitet Gehirnzellen auf Gedächtnisbildung vor

Nervenzellen mit offenem und geschlossenem Chromatin
Das Chromatin von Neuronen kann unterschiedlich kompakt sein (je roter desto kompakter). Je offener das Chromatin ist, desto eher ist die Zelle an der Gedächtnisbildung beteiligt (grün). (Bildrechte: Giulia Santoni / EPFL)

Giulia Santoni et al.: Chromatin plasticity predetermines neuronal eligibility for memory trace formation. Science 385, 26.07.2024, eadg9982.

Wenn wir lernen, verändern sich Nervenzellen in unserem Gehirn. Das gelingt nicht zuletzt deshalb, weil die Zellen epigenetische Strukturen umbauen und so die Aktivierbarkeit ihrer Gene verstellen. Doch was entscheidet darüber, welche der vielen möglichen Zellen sich tatsächlich wandeln? Es sind nämlich immer nur wenige von vielen gleichartigen Zellen, die ein äußerer Reiz innerhalb eines Netzwerks erregt, die letztlich zur Gedächtnisbildung beitragen. Jetzt konnten Forschende aus Lausanne in Experimenten mit Mäusen zeigen, dass auch an dieser Vorauswahl der Nervenzellen die Epigenetik beteiligt ist.

Manche der Zellen haben ein vergleichsweise offenes Chromatin, wie das Gemisch aus DNA und daran gebundenen Proteinen heißt. Bei diesen Zellen sind viele Enzyme aus der Klasse der Histontransferasen (HATs) aktiv. Sie bauen Acetylgruppen an Histone genannte Proteine an, die kleine Tönnchen bilden, um die sich die DNA der Zellen herumwickelt. Dank der Acetylgruppen stoßen sich die Tönnchen ab, das Chromatin lockert sich auf und es sind besonders viele der in der DNA codierten Gene zugänglich. Die Zelle kann folglich auch besonders viele Gene ablesen und hat deshalb ein größeres Potenzial zur Veränderung.

Den Neuro-Epigenetikerïnnen aus Lausanne gelang aber nicht nur der Nachweis, dass es tatsächlich nur die epigenetisch „empfänglichen“ Zellen sind, die zum Lernen beitragen. Die Forschenden zeigten auch, dass veränderte Mäuse, deren Nervenzellen extra viele HATs bilden, mehr der empfänglichen Zellen haben und besonders gut lernen können. Eine Blockade der HATs hat den gegenteiligen Effekt.

Der „epigenetische Zustand eines Neurons“ sei  „ein Schlüsselfaktor für die Informationskodierung“, schreiben die Forschenden in ihrem Artikel. Laut einer Pressemitteilung denken sie nun sogar über epigenetische Medikamente nach, die das Lernen verbessern sollen.

Johannes Gräff, Hauptautor der Studie betont, man entferne sich dank der neuen Resultate „von der vorherrschenden neurowissenschaftlichen Sichtweise auf Lernen und Gedächtnis“. Die Epigenetik rücke ins Zentrum des Interesses. Das sei besonders wichtig, weil „viele kognitive Störungen wie die Alzheimer-Krankheit und die Posttraumatische Belastungsstörung durch fehlgeschlagene epigenetische Mechanismen gekennzeichnet sind“.