Die Vermessung des Gehirns

Das Ziel der systematischen Erforschung von DNA-Methylierungsmustern auf Einzelzell-Ebene: Wie „BarCodes“ sollen zukünftige „scMCodes“ helfen, Zellen rasch zu identifizieren und einem Zelltyp zuzuordnen. Das Bild zeigt einen anatomischen Gehirnquerschnitt, eine Abstraktion des Gehirns mit Regionen, die als farbige Kreise (blau, rot, grün und gelb) dargestellt sind, und einen Barcode zur Darstellung der von den Wissenschaftlern verwendeten Technik. (Bildrechte: Salk Institute)

Wei Tian et al.: Single-cell DNA methylation and 3D genome architecture in the human brain. Science 382, 13.10.2023, doi: 10.1126/science.adf5357.

Yang Eric Li et al.: A comparative atlas of single-cell chromatin accessibility in the human brain. Science 382, 13.10.2023, doi: 10.1126/science.adf7044.

Alyssa Weninger & Paola Arlotta: A family portrait of human brain cells. Science 282, 13.10.2023, S. 168 – 169.

„Dies ist der Beginn einer neuen Ära in der Hirnforschung,“  sagt Joseph Ecker, Genetiker am Salk Institute in La Jolla, Kalifornien. Man könne nun besser verstehen, „wie sich Gehirne entwickeln, altern und von Krankheiten betroffen sind.“ Ebenfalls in La Jolla forscht an der University of California der Epigenetiker Bing Ren. Beide haben gemeinsam mit ihren Teams zwei wichtige Studien über die Epigenetik von Gehirnzellen publiziert, die zentraler Bestandteil eines noch viel größeren Projekts sind.

Insgesamt erschienen in den Zeitschriften Science, Science Advances und Science Translational Medicine Mitte Oktober 21 Publikationen. Sie liefern eine umfassende Vermessung des Gehirns, wie es sie in dieser Detailliertheit bislang noch nicht gegeben hat. RNA-Analysen auf der Ebene einzelner  Zellen, die aus mehr als drei Millionen Zellen von 3 verstorbenen Spendern stammten, lieferten Hinweise auf 3313 systematisch unterscheidbare Zellaktivitätszustände.

Die US-Forscherinnen Alyssa Weninger und Paola Arlotta fassen die Resultate in einem Perspektiv-Artikel zusammen. Das gemeinsame Ziel sei, „ein Profil des gesamten Gehirns zu erstellen und damit eine Grundlage für das Verständnis des Aufbaus und der Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu schaffen“. Auch aus ihrer Warte steht nun „eine neue Ära der experimentellen Erforschung“ an.

Die Ergebnisse stammen von der „Brain Initiative“ der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH. Besonders wichtig sind die epigenetischen Daten, weil sie Hinweise auf die Entwicklung der Zellen in verschiedene Typen sowie mögliche krankhafte Veränderungen liefern. Nicht umsonst definiert die Epigenetik das Programm und die Identität einer Zelle, denn sie legt fest, welche ihrer Gene die Zelle wie gut benutzen kann und welche nicht.

Die eine Studie zur Epigenetik analysierten das Methylierungsmuster der DNA und die dreidimensionale Struktur des Erbguts im Zellkern. Die andere nutzte eine Methode namens snATAC-seq, um zu bestimmen wie locker das Chromatin (Gemisch aus Protein und DNA) an den jeweiligen Stellen des Erbguts ist. Dadurch erhält man wichtige Informationen, wie nutzbar Gene und genregulierender Elemente für die individuelle einzelne Zelle überhaupt sind.

Beide Studien werteten die Informationen auf der Ebene einzelner Zellen aus. Eine solche Einzelzellbiologie ist erst seit kurzem technisch machbar. Und sie ermöglicht einen ungeahnt detaillierten Blick ins Gehirn. Auch für diese Studien wurden die Gehirne der drei verstorbenen Spender ausgewertet.

Von mehr als einer Millionen Zellen aus 42 Hirnregionen existieren nun Chromatin-Daten. Ein epigenetischer Zellatlas ist entstanden, der zwischen 107 Zelltypen unterscheidet und mehr als 500.000 neue Elemente zur epigenetischen Regulation der Gene dieser Zellen aufweist.

Daten zum Methylierungsmuster liegen von gut 500.000 Zellen aus 46 Gehirnregionen vor. Mit Hilfe dieses epigenetischen Markers lassen sich sogar 188 verschiedene Zelltypen auseinanderhalten. Die Forschenden wollen die große und komplexe Information in ihren Daten nun auf „epigenetische Barcodes“ (scMCodes) reduzieren, mit deren Hilfe man Hirnzelltypen in Zukunft leichter identifizieren und einordnen kann.

Doch wozu das alles? Der Epigenetiker Bing Ren antwortet: „Das menschliche Gehirn ist nicht homogen. Es ist eher ein Mosaik aus verschiedenen Zelltypen, die unterschiedlich aussehen und unterschiedliche Funktionen haben. Die Kartierung der verschiedenen Zelltypen im Gehirn und das Verständnis ihrer Funktionsweise wird uns letztlich helfen, neue Therapien zu entdecken, die auf einzelne Zelltypen abzielen, die für bestimmte Krankheiten relevant sind.“

Dazu passt, dass die Forschenden bislang unbekannte typische epigenetische Muster für psychiatrische Krankheiten wie Schizophrenie, bipolare Störung, Morbus Alzheimer und Depressionen entdeckten. Erstaunlich ist auch, dass weite Teile der epigenetischen Muster im Gehirn von Mäusen ähnlich aussehen wie beim Menschen. Sie scheinen so wichtig für die gesunde Entwicklung des Gehirns zu sein, dass sie sich im Laufe der Evolution kaum verändert haben.

Ganz anders dürfte es allerdings bei jenen epigenetischen Anpassungen aussehen, die als Reaktion der Zellen auf bestimmte Umweltreize wie Stress oder Schlafmangel entstehen. Sie können mit der Analyse toten Gewebes nicht wirklich analysiert werden. An diesem Punkt hat deshalb auch Elisabeth Binder vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München eine Schwäche des Hirnzell-Atlasses ausgemacht. Sie sagt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Die größte Schwachstelle ist, dass es Gehirnzellen aus dem Gewebe Verstorbener sind, das also nicht mehr reaktiv ist. Viele Genvarianten beeinflussen, wie Zellen auf Umweltreize reagieren. Das kann man in diesen Studien nicht abdecken.“