Vermessung des Gehirns, Teil 2

Übersicht über mehrere Artikel zum Thema. Nature 647. 05.11.2025.

Dass ein komplexer mehrzelliger Organismus mit all seinen Stärken und Schwächen nur dann richtig zu verstehen ist, wenn man weiß, wie er sich einst aus einer Eizelle heraus entwickelt hat, sollte sich längst herumgesprochen haben. „Die meisten Krankheiten entstehen nicht erst im Erwachsenenalter. Ihr Ursprung liegt oft bereits in den frühesten Entwicklungsstadien“, sagte schon vor zwei Jahrzehnten der bekannte US-amerikanische Toxikologe und Epigenetiker Randy Jirtle.

Diese Aussage gilt in besonderem Maß für das komplexeste Organ, das wir kennen: das Gehirn von Säugetieren wie dem Menschen. In der US-amerikanischen BRAIN-Initiative (Brain Research Through Advancing Innovative Neurotechnologies) versuchen zahlreiche Teams von Forschenden diese Komplexität besser zu verstehen. Schon vor zwei Jahren veröffentlichten sie spektakuläre Daten zu den einzelnen Zellen in den Gehirnen dreier verstorbener Menschen. (Die Epigenetik-News berichtete in der Meldung „Die Vermessung des Gehirns“.)

Was der Genetiker Joseph Ecker damals den „Beginn einer neuen Ära der Hirnforschung“ nannte, erlebt dieser Tage eine Aufsehen erregende Fortsetzung: Im Fachblatt Nature publizieren mehrere Teams zeitgleich ihre Erkenntnisse, wie sich – Zelle für Zelle einzeln betrachtet – das Gehirn eines Säugetiers entwickelt. Und nicht nur das: Die Forschenden zeigen auch, dass bestimmte Umwelteinflüsse die Entwicklung in diesen frühen Phasen des Lebens dauerhaft beeinflussen können.

Die Analyse umfasst Daten zur Genaktivität (Transkriptomik) und Epigenetik (Epigenomik) abertausender einzelner Zellen des Gehirns verschiedener Säugetierarten und des Menschen. Anders als früher lagen Resultate aus vielen verschiedenen Entwicklungsstufen vor, sodass die Forschenden die biologische Entwicklung des Gehirns wie einen Film über die Zeit hinweg nachvollziehen können.

Zunächst wird klar: Alleine das menschliche Gehirn enthält Tausende verschiedener Zelltypen. Sie alle sind aus gleichartigen Vorläuferzellen entstanden. Die Differenzierung der Zellen verläuft in Wellen und über Zwischenstufen, die sich dann nur noch in einen kleineren Satz von Zellen fortentwickeln können.

Zudem gibt es Zeitfenster, in denen Umwelteinflüsse die Entwicklung des Organs über die Programmierung bestimmter Zellen und Zelltypen entscheidend beeinflussen können. Bestimmte Gehirnzellen von Mäusen machen beispielsweise große Veränderungen durch, wenn sich Jungtiere von ihren Eltern entwöhnen oder sie in die Pubertät kommen. Umwelteinflüsse wie Berührungen, Temperaturveränderungen, aber auch bestimmte Gerüche oder visuelle Reize beeinflussen diese Prozesse. Fehlen bestimmte Duftstoffe ändert das bei Mäusen das Gehirn in Zellen und Regionen, die wichtig für deren späteres Sozialverhalten sind.

Alle Daten werden in Atlanten der Gehirnentwicklung zusammengefasst. Die Hoffnung scheint berechtigt, dass ein Vergleich von Gehirnzellen verschiedener Menschen mit diesen Daten Hinweise auf frühe Veränderungen geben können, die Zustände wie Autismus oder Schizophrenie begünstigen. Schon jetzt entdeckten die Forschenden Zelltypen, die das Risiko für spätere Depressionen oder auch die Krebserkrankung Glioblastom erhöhen dürften.

Die Neurobiologin Emily Sylwestrak von der University of Oregon, USA, kommentiert in einem Begleitartikel: Die neuen Publikationen „verwandeln das bisherige statische Bild von einzelnen Zelltypen in eine bewegte Geschichte des sich dynamisch entwickelnden Gehirns.“ Es dürfte eine Geschichte sein, die unser Verständnis vieler Krankheiten und einer gesunden Entwicklung dramatisch verbessern wird.