Aus Experimenten mit Säugetieren gibt es mittlerweile eine Fülle von Hinweisen darauf, dass traumatische Erlebnisse oder eine Fehlernährung nicht nur bei den betroffenen Individuen epigenetische Strukturen in bestimmten Zellen verstellen und damit zeitlebens das Verhalten sowie die Krankheitsanfälligkeit verändern können. Auch bei den direkten Nachkommen sowie laut einigen Studien sogar bei den Vertretern von bis zu drei Folgegenerationen hinterlässt die epigenetische Prägung mitunter Spuren (siehe dazu viele Beiträge unter dem Stichwort transgenerationelle Epigenetik). Alle Hinweise, dass ähnliches auch bei Menschen geschieht, sind bislang jedoch umstritten. Entweder können Forscher sich die Befunde auch anders erklären oder sie zweifeln die Aussagekraft und Zuverlässigkeit der Daten an. Da hilft jede neue Studie zum Thema ein großes Stück weiter. So auch jetzt, da ein Team um den Konstanzer Neuropsychologen Thomas Elbert faszinierende neue Daten vorgelegt hat.
Die Psychologen analysierten das komplette DNA-Methylierungsmuster in Mundschleimhautzellen von 65 weiblichen und 56 männlichen Kindern aus der brasilianischen Stadt São Gonçalo, die für ihren hohen Grad an Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung bekannt ist. Zudem befragten sie alle 121 Großmütter mütterlicherseits danach, ob sie während der Schwangerschaft mit den Müttern der Enkel Gewalterfahrungen gemacht hatten. 22 Prozent der Großmütter berichteten von hochgradiger Gewalt, das heißt, sie wurden wiederholt innerhalb der Familie oder von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft geschlagen oder missbraucht. Und tatsächlich fanden die Forscher bei den Enkeln dieser Großmütter an 27 Stellen auffallende Abweichungen im Epigenom. In der Nähe von fünf verschiedenen Genen waren die Unterschiede statistisch besonders signifikant, darunter bei zwei Genen, die eine Rolle im Herz-Kreislauf-System spielen. Von einem weiteren dieser Gene, CFTR genannt, wurde schon früher berichtet, dass seine Methylierung bei Erwachsenen verändert ist, die in ihrer eigenen Kindheit stark vernachlässigt worden waren.
Selbstverständlich sollte man die neuen Daten vorsichtig interpretieren. Sie besagen zum Beispiel nicht, dass das Erkrankungsrisiko der Kinder verändert ist und sie weisen lediglich auf eine Korrelation hin, ohne einen kausalen Zusammenhang belegen zu können. Dennoch erlauben sie und hoffentlich viele ähnliche zukünftige Befunde es eines Tages vielleicht sogar, mit Hilfe vergleichsweise einfacher biologischer Tests zurückschließen zu können auf Erfahrungen aus der Biografie der Vorfahren eines Menschen.
Offen bleibt allerdings auch, ob eine ähnliche epigenetische Weitergabe von Informationen aus der Umwelt auch von den Großmüttern väterlicherseits ausgehen kann oder ob sie noch eine Generation weiter wirkt. Erst dann könnte man von einer echten transgenerationellen epigenetischen Vererbung – also einer Vererbung alleine über die Keimbahn – sprechen. Die jetzt untersuchten Kinder waren nämlich zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung in gewisser Weise bereits organisch anwesend: als Eizelle im Fötus der Mutter. Die hormonellen Folgen der Gewalt könnten diese Eizellen sehr wohl direkt geprägt und die epigenetische Löschungsphase nach der rund zwei bis drei Jahrzehnte später erfolgten Befruchtung des Eis irgendwie überstanden haben.