Epigenetischer Marker für Homosexualität

Tuck C. Ngun et al.: A novel predictive model of sexual orientation using epigenetic markers. Presented at American Society of Human Genetics 2015 Annual Meeting, Baltimore, Md., 08.10.2015.

Pressemitteilung der American Society of Human Genetics, 08.10.2015.

Ende 2012 stellten Mathematiker und Evolutionsbiologen um Sergey Gavrilets von der University of Tennessee ein neues Modell zur Entstehung der Homosexualität vor, das bis heute weltweit für Diskussionen sorgt. Danach hat Homosexualität eine epigenetische Ursache (siehe Newsletter Epigenetik 01/2013). Diese Theorie bestätigte jetzt Tuck Ngun, Humangenetiker aus den USA, mit einer Analyse der Epigenome eineiiger Zwillinge, die er auf einer Tagung in Baltimore präsentierte.

Ngun und Kollegen analysierten das DNA-Methylierungsmuster von 37 Paaren eineiiger Zwillinge, von denen einer homosexuell ist, der andere nicht. Zur Kontrolle dienten die Daten von zehn eineiigen Zwillingspaaren, bei denen beide homosexuell sind. Tatsächlich fanden die Forscher mit Hilfe trickreicher statistischer Analysen systematische epigenetische Unterschiede zwischen Zwillingen unterschiedlicher sexueller Orientierung. Dank dieser Markierungen konnten die Epigenetiker anschließend die sexuelle Orientierung der Testpersonen mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent vorhersagen. „Nach unserem Wissen ist dies das erste funktionierende Beispiel eines Vorhersagemodells der sexuellen Orientierung, das auf molekularen Biomarkern beruht“, sagt Ngun.

Auf jeden Fall untermauert der Befund die drei Jahre alte These von Gavrilets und Kollegen. Danach verändern epigenetische Schalter, die direkt in der Zeit nach der Befruchtung eines Eis in Abhängigkeit vom Geschlecht gesetzt werden, die Reaktion des Organismus auf männliche Geschlechtshormone. Bei männlichen Embryonen wird die Hormonwirkung tendenziell verstärkt, bei weiblichen eher abgeschwächt. Auf diesem Weg soll die Epigenetik die Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale und der sexuellen Orientierung kanalisieren. Erbt nun ein Mann die weiblichen Markierungen seiner Mutter weil diese bei der Keimzellbildung nicht gelöscht wurden, oder erbt eine Frau die Markierungen ihres Vaters, begünstigt das der Theorie zufolge Homosexualität. (Für Details siehe folgenden Artikel des Autors: Warum es überall Schwule und Lesben gibt, Tages Anzeiger Zürich, 17.12.2014.)

Bestätigt sich der neue Befund, wäre man der biologischen Ursache der Homosexualität also ein gutes Stück näher gekommen. Endlich verstünde man, warum Homosexualität zwar in manchen Familien gehäuft vorkommt, sich aber keine genetische Ursache dafür finden lässt. In betroffenen Familien wäre danach die Veranlagung erhöht, epigenetische Schalter weiterzugeben. Ein „Schwulen-Gen“ gäbe es nicht. Noch viel wichtiger wäre aber eine andere Erkenntnis: Gleichgeschlechtliche Liebe ist danach weder eine Krankheit noch ein Erziehungsprodukt, wie noch heute erschreckend viele Menschen annehmen. Man muss sie weder frühzeitig erkennen, noch irgendwie behandeln oder kann Betroffene umerziehen. Homosexualität ist eine ganz normale, evolutionsbiologisch nachvollziehbare Variante menschlichen Verhaltens. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Ngun sieht es übrigens ähnlich, denn er hofft, seine Forschung helfe uns Menschen, uns selbst besser zu verstehen und zu akzeptieren, dass wir nunmal so sind, wie wir sind.