Es ist eines der großen Rätsel der Genetik: Warum sind Varianten im genetischen Code des Textes der DNA für weniger als ein Viertel des Übergewichtsrisikos von Menschen verantwortlich, wenn gleichzeitig die Erblichkeit von Übergewicht laut Zwillingsstudien bei 40 bis 70 Prozent liegt? Eine mögliche Erklärung ist, dass nicht nur genetische, sondern auch epigenetische Merkmale vererbt werden – also die kleinen biochemischen Anhängsel an oder neben der DNA, die deren Code zwar nicht verändern, aber mitentscheiden, ob eine Zelle ein bestimmtes Gen benutzen kann oder nicht.
Dass hier tatsächlich ein Teil der Lösung zu finden sein könnte, zeigt jetzt ein internationales Team um Lara Lechner und Peter Kühnen von der Klinik für pädiatrische Endokrinologie an der Berliner Charité. Bei Frauen kann es demnach vorkommen, dass in bestimmten Nervenzellen ein Gen namens POMC besonders stark mit Methylgruppen versehen und deshalb nur schlecht zu aktivieren ist. POMC spielt eine Rolle bei der Regulation des Appetits und wird auch als Sättigungs-Gen bezeichnet.
Bei Betroffenen steigt das Risiko für starkes Übergewicht um den Faktor 1,4. Die epigenetische Hemmung der Gen-Aktivität hat damit ähnliche Folgen wie eine genetische Mutation von POMC, die dessen Produkt weniger wirksam werden lässt.
Die Forschenden konnten zudem zeigen, dass sich die wichtige epigenetische Prägung offenbar schon in den ersten Phasen der Entwicklung des späteren Embryos ereignet, weshalb eineiige Zwillinge immer gemeinsam betroffen sind, zweieiige Zwillinge aber nicht. In diesem Zeitfenster scheint die Zelle im Zusammenspiel mit ihrer Umwelt eine typische epigenetische Signatur aufzubauen, die ähnlich individuell ist wie der genetische Code. Die Umweltbedingungen in der Zeit um die Zeugung scheinen hier eine wichtige Rolle zu spielen. Weitere Details sind aber noch ungeklärt, ebenso wie die Frage, warum im Fall des POMC-Gens nur Frauen von einer Methylierung betroffen sein können.
Außerdem betont Peter Kühnen in einer Pressemitteilung, dass der Lebensstil an der Entstehung starken Übergewichts einen oft noch größeren Anteil hat, als einzelne genetische oder epigenetische Faktoren: „Im Vergleich wirken sich sozioökonomische Faktoren deutlich stärker aus, sie können das Risiko um das Zwei- bis Dreifache erhöhen.“
Dennoch gelang es den Forschenden in einem kleinen Kontrollversuch mit fünf adipösen Testpersonen mit stark methyliertem POMC, deren Gewicht und Hungergefühl mit Hilfe eines Medikaments namens Setmenalotid zu verringern, das bereits bei Menschen mit einer POMC-Mutation erfolgreich eingesetzt wird. Kühnen dazu: „Weitere große kontrollierte Studien müssen zeigen, ob und wie wirksam und sicher die Behandlung mit dem Wirkstoff auch über einen längeren Zeitraum wäre. Insgesamt könnte ein solches Medikament jedoch nur Teil einer umfassenden Behandlungsstrategie sein.“