Alzheimer und Demenz systemisch verstehen

Rebecca G. Smith et al.: A meta-analysis of epigenome-wide association studies in Alzheimer’s disease highlights novel
differentially methylated loci across cortex. Nature Communications 12, 10.06.2021, 3517.

Samuel Morabito et al.: Single-nucleus chromatin accessibility and transcriptomic characterization of Alzheimer’s
disease. Nature Genetics 53, 08/2021, S. 1143-1155.

Md Rezaul Islam et al.: A microRNA signature that correlates with cognition and is a target against cognitive decline. EMBO Molecular Medicine, 11.10.2021, e13659.

Um komplexe Krankheiten zu verstehen, früh zu erkennen und effektiv zu behandeln, versucht die Wissenschaft zunehmend, das Leben systembiologisch zu betrachten. Diese Disziplin erforscht die zahlreichen beteiligten biologischen Komponenten und ihr Beziehungsnetzwerk sowie den Effekt äußerer Einflüsse. Wie wichtig dabei Informationen über die Epigenetik der Zellen sind, unterstreichen jetzt drei völlig unterschiedliche Studien, die alle das gleiche Objekt betrachten: die Alzheimer’sche Krankheit und das Auftreten von Demenz.

Ein internationales Team um Rebecca Smith und Katie Lunnon von der University of Exeter, Großbritannien, wertete große Mengen von Daten aus mehreren früheren Studien zur Epigenomik (systematische Auswertung epigenetischer Markierungen) von Alzheimer aus, über die teilweise auch im Newsletter Epigenetik berichtet wurde (03/2014: Das Alzheimer-Epigenom; 11/2018: Es gibt zwei Alzheimer-Epigenome). Insgesamt verrechnete das Team für diese Meta-Analyse Informationen zum Methylierungsmuster an der DNA von 1.408 Personen. Anschließend gelang sogar der Beleg, dass die Befunde auch auf mehr als 600 weitere Personen zutreffen. So wurden einige neue Stellen im Erbgut der Gehirnzellen entdeckt, die bei Betroffenen systematisch epigenetisch verändert zu sein scheinen. Sogar die Regulation von Genen ist betroffen, die bislang noch nicht mit Alzheimer assoziiert wurden. Außerdem gelang der Nachweis, dass das rätselhafte Degenerationsleiden, das etwa 60 Prozent aller Fälle von Altersdemenz verantwortet, nur Zellen der Großhirnrinde aber nicht des Kleinhirns betrifft.

Was der Meta-Analyse allerdings fehlt, ist die parallele Auswertung, inwieweit die epigenetischen Auffälligkeiten auch tatsächlich die Aktivität einzelner Gene verändert und welche Art von Zellen wie stark zum Gesamtgeschehen beiträgt. Dazu benötigt es die Kombination der Epigenomik mit der so genannten Transkriptomik, die misst, welche Gene abgelesen werden – und das auch noch auf der Ebene einzelner Zellen, nicht etwa in Gemischen, die viele verschiedene Zellen zugleich enthalten. An exakt diese  Kombination wagten sich jetzt der Systembiologe Samuel Morabito von der University of California in Irvine, USA, und Kolleg*innen.

Ihre gleichzeitige Analyse der epigenetisch regulierten Zugänglichkeit der DNA und der Transkriptomik innerhalb einzelner Zellen von Alzheimer-Patient*innen sei „eine wertvolle Ressource für das Verständnis regulatorischer Zusammenhänge im erkrankten Gehirn“, schreiben die Autor*innen. Tatsächlich eröffnet der Blick weg von einzelnen Symptomen des erkrankten Organs auf das ganzheitliche systemische Beziehungsgeflecht, das seine hochkomplexen Eigenschaften ausmacht, völlig neue Einsichten. Unter Anderem wurde auch hier ein Gen entdeckt, dessen Produkt sich als Ansatzpunkt für zukünftige Anti-Alzheimer-Therapien eignet.

Um einen neuen, vielversprechenden Ansatz zur Früherkennung einer Altersdemenz geht es in der dritten Studie. Das Team um André Fischer und Rezaul Islam vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Göttingen nutzte eine Kombination aus Laboruntersuchungen und menschlichen Daten, um epigenetische Botenstoffe im Blut aufzuspüren, die schon dann besonders zahlreich im Blut zirkulieren, wenn eine kurz bevorstehende Demenz noch gar nicht ausgebrochen ist. Es handelt sich um drei so genannte Mikro-RNAs (miR-181a-5p, miR-148-3p, miR-146a-5p), die die Übersetzung zu ihnen passender Gene in Proteine behindern. Noch müsse überprüft werden, ob die drei Stoffe tatsächlich zuverlässig genug das Auftreten einer Demenz ankündigen können, sagt Fischer. Außerdem sei die Messung für eine flächendeckende Anwendung zu aufwändig. Aber er ist optimistisch, diese Probleme noch zu lösen: „Wir schätzen, dass dieser Biomarker beim Menschen eine Entwicklung andeutet, die etwa zwei bis fünf Jahre in der Zukunft liegt.“ Doch damit nicht genug: Erste Tierversuche legen nahe, dass die Mikro-RNAs die Demenz aktiv beschleunigen und sich der drohende Gedächtnisverlust durch eine Blockade der epigenetischen Substanzen in Zukunft vielleicht bremsen ließe.