Mangelhafte Brutfürsorge hat lebenslange Folgen für den Nachwuchs und führt oft dazu, dass in der nächsten Generation ebenfalls die Brutfürsorge leidet. Dieser Zusammenhang zeigte sich bereits in Experimenten mit vielen Wirbeltieren und gilt nicht selten auch für Menschen.
Was Evolutionsbiologen von der Universität Mainz aber jetzt herausfanden, zeigt, wie universell die Zusammenhänge sind: Selbst Ohrwürmer – also Vertreter der Wirbellosen – verändern sich, wenn sich ihre Eltern nicht ausreichend um sie kümmern. Und auch bei ihnen pflanzt sich dieses Verhalten auf weitere Generationen fort. Die harmlosen Insekten sind Nestflüchter. Allerdings passt die Mutter für gewöhnlich auf das Gelege auf und beschützt und füttert später sogar die heranwachsenden Larven. Dieses aufwändige Verhalten muss Vorteile haben, sonst hätte es sich in der Evolution nicht durchgesetzt. Doch das ist zumindest auf den ersten Blick und unter Laborbedingungen, bei denen die Tiere mutterlos aufwachsen, aber jederzeit ausreichend Futter erhalten, nicht der Fall, sagt Jos Kramer, einer der Autoren: „Überraschenderweise sind die Nachkommen sogar größer und haben längere Zangen am Hinterleib. Der Verlust der Mutter ist unter unseren Laborbedingungen positiv.“
Bei Säugern haben vernachlässigte Nachkommen überwiegend Nachteile, und das hatten die Mainzer eigentlich auch bei den Ohrwürmern erwartet. Womöglich soll das stärkere Wachstum aber kompensieren, dass die Tiere weniger gut beschützt sind und in eine besonders harte Umwelt hineinwachsen. Schon vor Jahren gelang Eunice Chin und Kollegen von der kanadischen Trent University ein ähnliches Experiment bei Vögeln: Die Forscher spritzten Stresshormone in die Eier von Staren und zeigten, dass die schlüpfenden Vögel besonders kräftige und große Flügel bekamen. In der Theorie geben gestresste Muttertiere ihren Küken auf diesem Weg eine Botschaft darüber mit, dass die Umwelt derzeit besonders ungemütlich ist. Wenn die Küken groß sind, sollten sie deshalb vielleicht besser davonfliegen und sich neue Reviere suchen. Dabei können kräftige Flügel und Flugmuskeln sicher nutzen. Ohne Bedrohung macht es dagegen mehr Sinn, Energie und Ressourcen zu sparen und gewöhnliche Flügel auszubilden.
Auch bei Ohrwürmern müssen also negative Konsequenzen drohen, wenn die Brutfürsorge ausbleibt. Und tatsächlich zeigen sich solche Nachteile in der nächsten Generation: Ohrwürmer, die ohne Mutter aufgewachsen sind „kümmern sich generell schlechter um ihren Nachwuchs, sie füttern weniger und verteidigen ihre Kinder weniger effektiv“, sagt Ko-Autorin Julia Thesing. Unter natürlichen Bedingungen dürfte das ein klarer Nachteil sein, den ja das größere Wachstum vermutlich kompensieren soll.
Ein weiteres Resultat klingt auf den ersten Blick kurios, ist aber wissenschaftlich äußerst interessant: Ohrwurm-Pflegemütter, die Jungtiere aus verschiedenen Gelegen beaufsichtigen, kümmern sich um jene Junge besser, deren Eltern von den Großeltern nicht vernachlässigt wurden. Irgendetwas haben diese winzigen Ohrwürmchen von ihren Eltern – denen sie nie begegneten – geerbt, was sie nun anders macht als die anderen Nachkommen. Für Jos Kramer spricht das dafür, dass epigenetische Prägungen verantwortlich für die systematischen Verhaltensunterschiede der Insekten sind. Vielen aktuellen Studien zufolge werden solche epigenetische Prägungen nämlich mitunter auch biologisch vererbt und wirken noch Generationen später nach.
Foto: Ein Weibchen des Europäischen Ohrwurms beschützt sein Gelege (Bildrechte: Joël Meunier).