Dem Erbgut bei der Arbeit zusehen

Horng D. Ou et al.: ChromEMT: Visualizing 3D chromatin structure and compaction of the human genome in interphase and mitotic cells. Science 357, 28.07.2017, eaag0025. 

Daniel R. Larson & Tom Misteli: The genome – seeing it clearly now. Science 357, 28.07.2017, S. 354-355.

Kaum zu glauben, aber bis heute wusste man nicht, wie es wirklich im Inneren eines lebenden menschlichen Zellkerns aussieht. Noch niemand hatte zugesehen, wie sich die zwei Meter lange DNA in der zehn Mikrometer kleinen Kugel sortiert. Es existierte lediglich ein Modell, das Forscher aus Beobachtungen an vorbehandelten, abgetöteten und weitgehend zerstörten Zellen entwickelt hatten. Danach bildet das Chromatin, also das auf mehrere Chromosomen verteilte und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen auf Histonproteinkügelchen gewickelte Erbgutmolekül, Fasern unterschiedlicher Dicke. Diese Strukturen spiegeln einen unterschiedlichen Organisationsgrad systematischer Faltung der Chromatinbestandteile wider. Es sind 12-Nanometer-Fasern, 30-Nanometer-Fasern sowie besonders kompakt gefaltete 120- und 300- bis 700-Nanometer-Fasern. Doch es könnte sein, dass die dickeren Fasern in lebenden Zellen gar nicht existieren oder nur auf spezielle, sehr seltene Zustände begrenzt sind.

US-amerikanische Wissenschaftler entwickelten jetzt ein neues bildgebendes Verfahren namens ChromEMT, mit dessen Hilfe es ihnen als erste Menschen überhaupt gelang, das Chromatin intakter Zellen hochaufgelöst sichtbar zu machen und räumlich darzustellen. Nun, nach der spektakulären ersten Auswertung der neuen Daten, ist man versucht, schlicht „Pustekuchen“ zu rufen. Denn von den vielen schönen Fasern aus der Theorie existiert auf den neuen Bildern nur die einfachste, die aus der DNA besteht, auf die wie bei einer Perlenkette die Histonkügelchen nacheinander aufgereiht sind. Das ist mit Sicherheit eine große Überraschung, weshalb das Wissenschaftsmagazin Science den Artikel auch zur Titelgeschichte kürte. (Das abgebildete Cover zeigt eine Illustration des neuen Chromatinmodells).

Die offenbar einzige vorherrschende Faser ist fünf bis 24 Nanometer dick. Bei ihr wechseln sich freie DNA-Stücke ab mit so genannten Nukleosomen, also den Gebilden aus Histonen plus zweieinhalbmal darum herumgewickelte DNA. Das lockere Euchromatin, in dem die Gene besonders leicht aktivierbar sind, das kompakte, für schlecht aktivierbare Gene stehende Heterochromatin und das noch kompaktere Chromatin der Chromosomen während der Zellteilung unterscheiden sich den neuen Erkenntnissen zufolge allein dadurch voneinander, wie dicht die simple Perlenkette ineinander verknäuelt ist. Eine besondere Faltung oder Verzwirbelung der Kette existiert nicht.

Die Epigenetiker Daniel Larsen und Tom Misteli freuen sich in einem Begleitartikel über die neue Methode. Es handle sich um einen „Meilenstein, der die Tür öffnet zur Erforschung der Beziehung zwischen Chromatinstruktur und ihrer Funktion.“ Gelangen die Forscher eines Tages tatsächlich durch diese Tür, hätten sie ein neues Kapitel der Epigenetik aufgeschlagen.

Foto: Eine neue Bildgebungstechnik erzeugt 3D-Bilder des Chromatins lebender Zellen (Bildrechte: Salk Institute / Clodagh O’Shea).

Bildrechte Science Cover: Valerie Altounian / Science