Wie die Rochen zu ihren Segelflossen kamen

Der Knorpel des Kleinen Igelrochens (Leucoraja erinacea ) ist mit Alcianblau, die Knochen sind mit Alzarinrot gefärbt. Das Foto stammt vom Marine Biology Laboratory in Woods Hole, USA, an dem die Rochen für diese Studie gezüchtet und gehalten wurden. (Bildrechte: David Gold Lynn Kee und Meghan Morrissey, MBL-Embryologie-Kurs)

Ferdinand Marlétas et al.: The little skate genome and the evolutionary emergence of wing-like-fins. Nature, 12.04.2023, online-Vorabpublikation, doi: 10.1038/s41586-023-05868-1.

Rochen-Embryo (Leucoraja erinacea): Die blaue Färbung (Alcianblau) zeigt den Knorpel. (Bildrechte: Elena Boer, MBL-Embryologie-Kurs)

Lange haben wir gelernt, Antreiber der Evolution seien Mutationen in einzelnen Genen, die Organismen einen Selektionsvorteil verschaffen. Doch es häufen sich Beispiele, dass gerade die spektakulären, sprunghaft erscheinenden Anpassungen ganz anders zustande kommen: durch Umbauten des Erbguts, die weniger die Gene selbst betreffen, als deren größtenteils epigenetisch gesteuerte Regulation.

Ein internationales Forschendenteam fand dafür jetzt ein wichtiges Beispiel. Mit Hilfe akribischer und aufwändiger Analysen der Molekularbiologie des Kleinen Igelrochens spürten sie die entscheidenden Veränderungen auf, die den Rochen ihre einzigartigen Flossen schenkten. Diese umgeben die Fische wie ein Gewand und lassen sie mit Hilfe unauffälliger Wellenbewegungen über den Meeresboden gleiten, als seien sie Luftkissen-Unterseeboote.

Die Flossen sind das sichtbarste Merkmal, das Rochen von ihren nächsten Verwandten, den Haien, unterscheidet. Geneinsam gehören sie zu den heute noch existierenden Arten, die am engsten mit den Vorfahren aller Wirbeltiere verwandt sind. Wer mehr über die Evolution der Rochen lernt, erfährt deshalb auch eine Menge über die Evolution des Menschen.

Eine Analyse der Genetik, der Epigenetik und der Genaktivität (Transkriptomik) der Rochenzellen ergab nun, dass es vor etwa 286 Millionen Jahren zu deutlichen Umbauten in deren Erbgut gekommen sein muss. Ganze Chromosomenstücke wurden vermutlich an andere Stelle versetzt. Und weite Teile der so genannten nichtkodierenden Regionen der DNA, die keine Gene enthalten aber wichtig für die Epigenetik sind, wandelten sich.

Die Gene selbst veränderte das kaum, wohl aber deren räumliche Lage in Bezug zu anderen Teilen des Erbguts, etwa zu sogenannten Enhancern, die die Aktivität benachbart liegender Gene verstärken können. Dreidimensionale Strukturen benachbarter und deshalb ähnlich regulierter DNA-Abschnitte – topologisch assoziierte Domänen (TAD) genannt – organisierten sich neu.

Durch diese und andere epigenetische Veränderungen werden bestimmte, für die Entwicklung der Flossen im Laufe des Rochen-Lebens wichtige Gene in einem anderen zeitlichen Muster aktiv. Weil die resultierende neue Flossenform offenbar Vorteile hat, blieb die hauptsächlich verantwortliche 3-D-Struktur der Rochen-DNA bis heute weitgehend unverändert.

„Das ist eine neue Perspektive darauf, wie sich das Erbgut im Laufe der Evolution weiterentwickelt“, sagt Darío Lupiáñez, an der Studie beteiligter Genetiker am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in einer Pressemitteilung. Co-Autor José Luis Gómez-Skarmeta vom Andalusischen Zentrum für Entwicklungsbiologie im spanischen Sevilla präzisiert: „Die Evolution ist zu einem großen Teil eine Geschichte von Veränderungen der Genregulation während der biologischen Entwicklung von Organismen.“ Ein neues Denken scheint die Evolutionsbiologie zu erobern.

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