Epigenetische Spur der Armut schon bei Kindern messbar

Laurel Raffington et al.: Salivary epigenetic measures of body mass index and social determinants of health across childhood and adolescence. JAMA Pediatrics, 05.09.2023, Online-Vorabdruck, doi: 10.1001/jamapediatrics.2023.3017.

Unjali P. Gujral, Shari Barkin & Venkat Narayan: Epigenetics of early-life socioeconomic stressors and the impact on childhood body mass index – potential mechanism and biomarker? JAMA Pediatrics, 05.09.2023, Online-Vorabdruck, doi: 10.1001/jamapediatrics.2023.3028.

Schon in den 1980er Jahren entwickelten der Brite David Barker und der Deutsche Günter Dörner unabhängig voneinander die Theorie, dass die frühe kindliche Prägungen eines Menschen das Risiko für spätere Alterskrankheiten beeinflussen kann. Besonders wichtig sei die perinatale Phase, also die Zeit im Mutterleib und die ersten Monate bis Jahre nach der Geburt.

Dank der Epigenetik sind die zugrundeliegenden molekularbiologischen Prozesse mittlerweile messbar geworden. Auch in diesem Newsletter wurde schon häufig über die sogenannte perinatale Programmierung geschrieben. Nun hat ein internationales Team um die deutsch-amerikanische Entwicklungspsychologin Laurel Raffington vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ein eindrucksvolles neues Beispiel dafür gefunden, wie sich frühkindliche Umwelteinflüsse auf die lebenslange Gesundheit und die Lebenserwartung auswirken können.

Die Forschenden nutzten epigenetische Daten zum Muster der Methylierung an der DNA von Zellen aus Speichelproben von gut 3.200 Kindern und Jugendlichen aus zwei US-Amerikanischen Studien. Aus diesen Daten berechneten sie mit Hilfe einer Formel das Übergewichtsrisiko der Kinder. Diese Formel, die auch als epigenetischer Body Mass Index (BMI) bezeichnet wird, war bislang nur bei Erwachsenen eingesetzt worden, die Blutproben abgegeben hatten. Sie gilt bei diesen als guter Biomarker für das Übergewichtsrisiko.

Nun zeigte sich, dass der epigenetische BMI offenbar auch bei Kindern und offenbar auch mit Speichelproben funktioniert. War er im Alter von neun Jahren erhöht, hatten die gleichen Kinder sechs Jahre später deutlich häufiger Übergewicht als andere Kinder. Unterschiede beim realen BMI spiegelten sich im epigenetischen Muster der Speichelzellen wieder – und das sogar bei eineiigen Zwillingen.

Da der zugrunde liegende Algorithmus eigentlich für den Einsatz bei Erwachsenen entwickelt wurde, belegt dieses Resultat indirekt, dass die biologischen Ursachen des späteren Erkrankungsrisikos zumindest teilweise bereits in der Kindheit liegen dürften. Das bestätigt ein weiteres wichtiges Resultat der neuen Studie: Je ärmer die untersuchten Kinder waren, desto höher war statistisch gesehen ihr epigenetisch gemessenes Übergewichtsrisiko. Am deutlichsten war dieser Effekt bezogen auf die finanzielle Situation der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt.

Die Forschenden führen dieses Ergebnis – ganz im Sinne der Idee von der perinatalen Programmierung der Gesundheit – auf Umwelteinflüsse aus der Zeit im Mutterleib und relativ kurz nach der Geburt zurück. Arme Menschen hätten es in der Regel schwerer, sich und ihre Kinder gesund zu ernähren. Zusammen mit anderen Untersuchungen zeige ihr Resultat, „dass die Gesundheit im späteren Leben mit den Bedingungen in der frühen Kindheit zusammenhängt“, schreiben sie. Und das habe „wichtige Auswirkungen auf die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen, die die gesunde Lebensspanne von Menschen erheblich verlängern könnten“.

Der Gesundheitsforscher Unjali Gujral aus Atlanta, USA, und Kolleg*innen bestätigt in einem Begleitkommentar: Nun gebe es „weitere Evidenz“ dafür, dass in der frühen Lebensphase eines Menschen ein „kritisches Fenster“ für die Vorbeugung vor späteren Krankheiten sei.

Laurel Raffington geht in einem Interview sogar so weit, schon jetzt über politische Konsequenzen nachzudenken: „In Anbetracht der rasanten Entwicklung in den ersten Lebensjahren könnte eine Erleichterung der finanziellen Belastung von Müttern schon während der Schwangerschaft die größten langfristigen Vorteile sowohl für die Babys als auch für ihre Mütter mit sich bringen.“

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