Kritik an gängiger Sicht auf die Epigenetik

Bernhard Horsthemke: A critical appraisal of clinical epigenetics. Clinical Epigenetics 14, 28.07.2022, Nr. 95.

Es sei ein Missverständnis, dass epigenetische Modifikationen des Chromatin genannten Gemischs aus DNA und angelagerten Proteinen eine eigene, unabhängige Ebene der Genregulation seien, schreibt der Epigenetiker Bernhard Horsthemke von der Universität Duisburg-Essen in einem Beitrag für das Fachblatt Clinical Epigenetics. Weder steuere das Epigenom die Genaktivität einer Zelle direkt, noch werde es in der Regel direkt durch äußere Einflüsse verändert. Gene würden von Transkriptionsfaktoren an- oder ausgeschaltet. Erst im Nachhinein könnten von diesen rekrutierte epigenetisch aktive Enzyme das Chromatin verändern und damit die Aktivierbarkeit der Gene beeinflussen, nicht jedoch deren Aktivität. „Somit spiegeln Veränderungen in den Chromatinmodifikationen eher Veränderungen in der Genexpression wider, als dass sie diese verursachen“, folgert Horsthemke, der seit den 1980er Jahren im Gebiet forscht. Hinzu komme, dass viele epigenetische Markierungen durch Gene und die DNA selbst vorgegeben würden. Hätten Eltern und ihre Nachkommen das gleiche Epigenom, sei das oft eine Folge der genetischen Vererbung und kein Hinweis auf die Existenz einer generationsüberschreitenden epigenetischen Vererbung.

Anders als bei vielen Tierversuchen gebe es beim Menschen bislang nur wenige eindeutige Hinweise, dass Umwelteinflüsse das Epigenom von Zellen direkt verändern würden, und dass solche Veränderungen zudem an Nachkommen weitergegeben werden könnten. Vor allem für die klinische Epigenetik, die den Einfluss der Epigenetik auf das Erkrankungsrisiko sowie die Therapie von Krankheiten untersucht, seien solche Daten aber erforderlich. Zudem wiesen viele Studien methodische Schwächen auf: Unterschiede in der Epigenetik zwischen zwei Vergleichsgruppen könnten auch auf genetische Unterschiede zurückzuführen sein und gar nicht – wie oft angenommen – auf verschiedene Umwelteinflüsse. Und es würden meist Gemische aus vielen Zellen ausgewertet, was ebenfalls störungsanfällig sei.

Popularisierende Formulierungen wie „Wir können unsere Gene kontrollieren“ oder „Du bist, was deine Eltern gegessen haben“ hätten deshalb in Fachpublikationen nichts verloren. Man brauche eine präzisere Definition der Epigenetik und solle zu den Fakten der Molekular- und Zellbiologie zurückkehren.