Die Ausprägung der allermeisten menschlichen Merkmale hat komplexe Ursachen. Sie entstehen aus der permanenten, teils über Generationen hinweg stattfindenden Interaktion von Umwelteinflüssen mit dem genetischen Erbe. Entscheidend ist dabei der Einfluss von sozialem Umfeld, Lebensstil und frühkindlichen Erfahrungen auf die Regulation zahlreicher Gene zugleich.
Wie intelligent wir sind, ob wir ein hohes Risiko für Depressionen haben oder wie effizient beispielsweise unsere Muskeln arbeiten: All das ist das Resultat eines Aktivitätsmusters, das mitunter tausende miteinander systemisch vernetzte Gene in unterschiedlichen Zelltypen in ebenfalls vernetzten Organen im Zusammenspiel mit Umweltreizen bilden.
Mindestens so wichtig wie der genetische Code der DNA ist also die teilweise epigenetisch gesteuerte Regulation umfangreicher Gen-Netzwerke. Logischerweise folgt die Vererbung komplexer Merkmale also nicht den gleichen Regeln, wie die Vererbung simpler oder sogar monogenetischer Merkmale – etwa Haar- und Augenfarbe oder Erbkrankheiten und Anomalien wie zystische Fibrose oder Sichelzellenanämie.
Für diese gelten weitgehend die altbekannten Mendel‘schen Regeln. Doch es ist ein großer Fehler, diese Regeln auf komplexe menschliche Eigenschaften anzuwenden, schreiben der Lernpsychologe Brian Donovan aus Colorado Springs, USA, und Kollegïnnen in einem Artikel im Fachblatt Science.
Dieser Fehler verstärke die falsche Vorstellung, Menschen unterschiedlicher geographischer Herkunft seien aufgrund ihrer Genetik verschieden. Diese Art des „genetischen Essentialismus“ fördere rassistisches Denken. „Wenn ‚Rassen‘ als geografische Populationen definiert werden, dann ist die essentialistische Annahme falsch, dass es wenig bis gar keine genetische Variation zwischen Individuen derselben Rasse gibt – und damit, dass die meisten genetischen Variationen zwischen den Rassen bestehen“, schreiben die Forschenden.
Im Gegenteil existiere zwischen den Individuen aus einer gleichen Region eine sehr viel höhere genetische Variabilität als zwischen Gruppen von Menschen mit unterschiedlicher Herkunft. Das Genom aller Menschen unterscheide sich nur zu etwa 0,1 Prozent voneinander, und 95 Prozent aller Unterschiede fänden sich innerhalb einheitlicher geographischer Populationen.
Leider werde die Genetik im Biologieunterricht fast überall auf der Welt noch immer mit Hilfe der Mendel’schen Regeln und anhand von Beispielen wie der zystischen Fibrose oder der Sichelzellenanämie gelehrt. Das spiegele den wissenschaftlichen Stand zur Vererbung menschlicher Eigenschaften nicht ansatzweise wider und verstärke die Anfälligkeit zu rassistischem Gedankengut.
Die Forschenden fordern ein Umdenken hin zu einer „humanen Genomikausbildung“. Diese erkläre Schülerinnen und Schülern die ganze Komplexität der Vererbung, zu der neben der Weitergabe genetischer Information natürlich auch die Vererbung einer bestimmten Umwelt inklusive Kultur und sozialer Faktoren sowie deren Einflüsse auf die Genregulation gehöre.
In Experimenten konnten die Forschenden zeigen, dass dieser Ansatz funktioniert und dazu führt, dass Schülerïnnen zum Ende des Genetik-Unterrichts weniger rassistisch denken. Fazit des Teams um Donovan: „Unsere Studie zeigt, dass Biologielehrer, wenn sie über Mendel hinausgehen und eine humanere Genomikausbildung anstreben, die Saat für eine genetisch informiertere und weniger rassistisch voreingenommene Gesellschaft legen können.“
Ob die Ergebnisse auf Deutschland übertragbar sind, bleibt offen. Immerhin ist hierzulande die Epigenetik seit wenigen Jahren fester Bestandteil der Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe. Damit vermitteln Lehrende hoffentlich auch die Botschaft, dass ein Mensch mit all seinen Eigenschaften und unabhängig von seiner geographischen Herkunft immer das untrennbare Produkt aus genetischem Erbe, prägender Vergangenheit und Einflüssen aus der Umwelt ist.
Vor allem aber sollten Lehrerïnnen betonen, dass es unter diesen drei Faktoren nur das genetische Erbe ist, das sich bei allen Menschen nahezu gleicht.